„Behandelt mich nicht wie ein Kind!“, habe ich vor ein paar Tagen von einer Jugendlichen auf der Straße gehört. Sofort kam mir einen Satz der Buchautorin L.R. Knost in den Kopf: „Keiner mag es, wie ein Kind behandelt zu werden. Nicht mal die Kinder selbst.“
Die Bedeutung, die hinter dem Satz „Behandelt mich nicht wie ein Kind“ steckt, ist größer, als sich viele von uns vorstellen können. Dieser Satz bedeutet: „Behandle mich nicht ungerecht. Ich bin fähig.“
Bedeutet das, dass wir Kinder ungerecht behandeln? Das wir denken, dass sie unfähig sind, nur weil sie Kinder sind? In vielen Situationen ist das so. Diese Handlung heißt Adultismus.
Der Begriff Adultismus setzt sich zusammen aus dem lateinischen Wort „adultus“ für Erwachsene und der lateinischer Endung -ismus. -Ismus ist in dem Fall die Kennzeichnung für eine oft einseitige Lehre. Die Lehre des Erwachsenseins. Durch diese „Lehre des Erwachsenseins“ werden die Bedürfnisse des Kindes nicht berücksichtigt, nur die Meinung der Erwachsenen. Was daraus entsteht, ist Adultismus.
Wikipedia erklärt Adultismus als „eine Form der Benachteiligung, die entsteht, wenn Kinder und Jugendliche von Erwachsenen als zur Selbst- und Mitbestimmung noch nicht fähige Wesen wahrgenommen werden, die sich den Vorgaben der angeblich reiferen Erwachsenen beugen müssen (…).“
Die Meinung, dass Kinder und Jugendliche den Eltern „auf der Nase herumtanzen“ und „erzogen werden müssen“ ist keine moderne Sache. Man muss nur einen Blick auf alte Kinderbücher oder Traditionen werfen – wie der Nikolaus z.B., der nur „braven Kindern“ etwas schenkt. Die Moral der Geschichte wird gleich klar: Kinder sind unartig und müssen lernen, sich richtig zu benehmen.
Bis ins 20 Jahrhundert war eine Unterordnung des Kindes bezüglich der „Respektperson“ sehr wichtig: Kinder mussten erzogen werden, um zu anständigen Staatsbürgern heranwachsen zu können. Die Knigge bestätigt bis heute noch diese Auffassung.
Es gibt verschiedene Erziehungsbücher aus der Vergangenheit, die unseren Eltern und Großeltern erzählt haben, dass es ihre Aufgabe ist, schlechtes oder falsches Benehmen der Kinder zu korrigieren und sie damit zu disziplinieren. Disziplin und Gehorsam waren die wichtigsten Werte.
Wenn ich über die Geschichte der Erziehung lese, wird mir klar: Wir versuchen seit Jahrhunderten, Kinder an eine Erwachsenenwelt anzupassen. Ich denke, es ist endlich Zeit zu erkennen, dass wir diejenige sind, die Kinder besser verstehen sollten.
Wir Erwachsene sollen uns anpassen, um Kinder besser begleiten zu können. Einfach aus dem Grund, weil wir ein erwachsenes und vollständig gereiftes Gehirn haben. Wir sollten in der Lage sein, mit unseren Gefühlen gut umzugehen, damit wir Kindern beibringen können, dies auch zu tun.
Weil wir es so gelernt haben. Aus der Überzeugung heraus, dass Babys und Kleinkinder nicht in der Lage sind zu wissen, was gut für sie ist. Da es bisher zu wenig Erkenntnis über die Kindheit gab.
Das ist der Grund, weshalb Kinder missverstanden und wie Erwachsene mit schlechten Manieren behandelt werden.
Dank der Neurowissenschaft und der Arbeit vieler Psychologen und Soziologen weltweit, wissen wir heute über die kindliche Entwicklung besser Bescheid. Was vorher z.B. als unartig oder als Manipulationsmanöver angesehen wurde, wird heute als ein natürlicher Prozess der Hirnreifung anerkannt.
Die „Trotzphase“ (heute Autonomie-Phase genannt) ist also ein wichtiger Schritt in der emotionalen Entwicklung eines Kindes. Diese Erkenntnis verändert die Sichtweise des Erwachsenen auf das Kind komplett: ein Trotzanfall ist kein Versuch der Manipulation, der korrigiert werden muss. Ein Trotzanfall bedeutet nur, dass ein Kind mit bestimmten Situationen nicht umgehen kann und sein Gehirn die Notbremse zieht. Das geschieht, weil ein Kleinkind seine Emotionen noch nicht selbst regulieren kann. Das Kleinkind ist gerade dabei, es zu lernen – und braucht dafür unsere Hilfe. Es braucht unsere Ruhe, um sich selbst zu beruhigen.
Ein 3-jähriges Kind sieht seine gelbe Tasse auf dem Tisch stehen. Es fühlt sich aber gerade nur mit der grünen Tasse wohl – nicht mit der Gelben. Es folgt ein Trotzanfall.
Wir Erwachsene wissen, dass die Farbe der Tasse die Funktion des Wasserbehälters nicht beeinflusst. Die Tendenz ist, mit Adultismus zu reagieren: Wir stufen das Weinen als unnötig ein und sagen Sätze wie:
„Du kannst mit der gelben Tasse so gut trinken wie mit der Grünen.“
Und das Kind wirft sich auf den Boden.
Wenn ein Kleinkind einen Trotzanfall hat, hat die Amygdala das Kommando übernommen. Die Amygdala, auch Mandelkernkomplex genannt, ist ein Teil unseres Gehirns, dass das Zentrum für die Entstehung von Gefühlen bildet. Ihre Funktion besteht darin, Emotionen, insbesondere Wut und Angst, schnell zu verarbeiten und auszudrücken. Wird eine Situation als „Gefahrsituation“ eingestuft, blendet die Amygdala das logische Denken aus und gibt den Körper das Kommando, sofort zu fliehen oder sich zur Wehr setzen – wie z.B. in einer Trotzanfall.
> hier kannst du mehr über die Funktion der Amygdala lesen
Daniel Goleman, Experte für emotionale Intelligenz, nennt diese unkontrollierbaren, emotionalen Reaktionen „Die Entführung der Amygdala“. Laut Goleman können wir unsere Emotionen nicht kontrollieren und denken irrational, weil unsere Amygdala für diesen Moment die Kontrolle übernommen hat. Und wenn die Amygdala das Kommando hat, es ist unmöglich, logisch zu denken. Man muss sich erstmal beruhigen.
Das bedeutet: Der Moment eines Wutanfalls ist der unpassendste Zeitpunkt, um zu versuchen, ein Kind zu disziplinieren. Logische Sätze und Befehle können nicht verarbeitet werden, weil der Teil des Gehirns, der die Logik steuert, vorübergehend blockiert ist.
> Die Amygdala übernimmt übrigens auch bei Erwachsen manchmal (oder auch mal häufiger) das Kommando. Z.B. wenn wir wütend werden oder uns beleidigt fühlen und Dinge sagen, die wir nachher bereuen. Erwachsenen-Trotzanfälle, sozusagen.
Vielleicht hast du das auch schon mal gemerkt: Einem Kleinkind etwas zu erklären, funktioniert nicht. Sie können zwar irgendwann die Wörter wiederholen, deinen Rat befolgen werden sie aber nicht. Ein Kleinkind ist von seiner Entwicklung noch nicht in der Lage, rein logische Botschaften zu verstehen.
Der Grund dafür ist, dass der präfrontale Kortex erst ab dem Alter von 3 Jahre zu reifen beginnt. Das präfrontale Kortex ist für das logische Denken und die Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen, verantwortlich. Er ist übrigens erst im Alter von 25 Jahren fertig entwickelt.
Das bedeutet: das Einzige, was bei einem Trotzanfall funktioniert, ist Empathie. Durch Ruhe, Empathie und Verständnis beruhigt sich das Kind wieder und es wird Bindung geschaffen. Und Bindung ermöglich die Selbstregulierung. Nur so werden Lösungen gefunden, die für alle gut sind: Für Erwachsene UND Kinder.
Das ist was wir Bindungsorientierung – oder „auf Augenhöhe sprechen“ – nennen.
Wir haben also gesehen: Mit Adultismus funktioniert es nicht. Die Situation verschlimmert sich nur.
Eine mögliche Lösung wäre z.B., mit ruhiger Stimme zu sagen: „Du magst lieber die grüne Tasse haben, oder? Ich finde die auch ganz toll. Komm her. Die Tasse wird gerade in der Spülmaschine saubergemacht, hörst du das? Die können wir jetzt nicht aufmachen, sonst wird alles nass. Was hältst du davon: Wir warten, bis die Maschine fertig ist und wenn du Durst bekommst, kannst du aus meinem oder aus einem anderen bunten Becher trinken.“
Alternativ fragt man vorher, ob das Kind die gelbe oder die blaue Tasse haben will. So kann man sich und dem Kind die ganze Aufregung wegen der grünen Tasse ersparen.
Am Ende gilt: Was immer du sagst und wie du reagierst, tue dies mit Empathie. Denn eines ist sicher: Adultismus ist nie die richtige Lösung.
Überall: in der Arztpraxis, im Kindergarten, in der Schule, in der Politik. Beispiele für Adultismus in der Gesellschaft:
Es gibt so viel Adultismus in der Kinderernährung, dass man ein ganzes Buch darüber schreiben könnte.
Kinder sollen ihre eigenen Körper kennenlernen und ihre Bedürfnisse erkennen können. Das ist aber unmöglich, wenn sie stets nach dem Willen eines Erwachsenen handeln müssen, um diesen zufrieden zu stellen. Die Folgen von extremen Adultismus am Tisch können schwerwiegend sein, wie z.B. ein mangelndes Selbstwertgefühl, Selektivität und Essstörungen. Hier ein Beispiel davon:
Diese Handlungen gibt es nicht nur Zuhause, sondern auch in der KiTa, in der Schule, im Hort und in der Mittagsbetreuung. Hier ist die Absprache mit dem Personal sehr wichtig, vor allem wenn das Kind eine schwierige Ess-Phase durchmacht.
Für Krippe und Kindergartenpersonal empfehlen sich Weiterbildungen zum Thema Adultismus und passendes pädagogisches Material.
Die Kindheitspädagogin und stellvertretende Kinderkrippenleiterin Fea Finger zum Beispiel befasst sich mit dem Thema in Krippen und Kindergarten und bietet Seminare für Fachkräfte an. Zum Thema Adultismus am Tisch habe ich mit ihr ein Live Video bei Instagram veranstaltet. Hier kannst du es anschauen.
Das Krüger & Thiel Instituts für Kommunikation und Entwicklung aus Wuppertal bietet ebenfalls interessante Fortbildungen und passendes Material für eine bindungsorientierte Arbeit mit Kindern in Krippen und Kindergarten an.
Gott sei Dank gibt es heute viele verschiedene Bewegungen und Fachleute, die sich für eine bindungsorientierte Erziehung einsetzen. Um ein paar zu nennen: